von Ivano Fargnoli (2001)
Für einen Moment stockt Paul der Atem. Die Glocken der „Church of Glory“, die zu dieser christlichen Zeit zur Messe rufen, das Nebelhorn des Kutters draußen vor der San Francisco Bay, ja selbst der Lärm der Autos auf der Golden Gate Bridge scheint für einen kurzen Moment zu verstummen. Nur langsam und verkrampft versucht er wieder zu atmen.
„Diese Stimme“ spricht er leise zu sich selbst, „das kann nicht möglich sein.“ Im selben Augenblick durchzuckt ihn diese Stimme erneut: „Guten Abend, Sir, ist alles in Ordnung, oder brauchen Sie Hilfe?“
„Nein Officer, alles in Ordnung!“ Rasch, aber ohne eine verdächtige Bewegung zu machen, umklammert er vorsichtig den Knauf seines Revolvers, den er im Mantel versteckt hält. In ihm pocht es wie wild vor Angst.
„Es ist Heiliger Abend, Sir. Haben Sie keine Familie, die auf Sie wartet? Ich meine, es ist ja nicht gerade angenehm hier draußen.“ Ohne sich umzuwenden, schüttelt er kaum wahrnehmbar den Kopf, immer noch bemüht, seine Sinne zu ordnen und die Ruhe zu bewahren.
„Sie gehören doch hoffentlich nicht zu denen, die zum Weihnachtsfest sentimental werden und vor lauter Selbstmitleid beschließen, hier draußen das Ende zu suchen?“ Wieder schüttelt Paul den Kopf, aber diesmal energischer, so als wolle er verhindern, den geringste Zweifel aufkommen zu lassen, dass es ihm gut geht.
„Wie ist Ihr Name, Sir?“
„Paul …. Paul Russel.“
„Ich hasse dieses nasse, kalte Wetter, es erinnert mich immer an meine Zeit dort drüben auf Alcatraz“, und zeigt mit seinem lederbezogenen Schlagstock in die Richtung, in der die Dunkelheit den meterlangen Sandsteinfelsen verbirgt. „Alcatraz, das spanische Wort für Pelikan, ernannt nach dem spanischen Entdecker Juan Manuel de Ayala. Wussten Sie das?“ Wieder gibt Paul nur ein Kopfschütteln von sich. Die Situation wird für ihn unerträglich, und er ist stets bemüht, sein Gesicht im Schatten zu verbergen.
„Waren Sie schon einmal dort? Ich meine, haben Sie schon einmal die Gelegenheit gehabt, an einer Besichtigung dieser Festung teilzunehmen? Es war damals ein Gefängnis für schwererziehbare Straftäter, bewacht unter höchsten Sicherheitsvorkehrung und einem Minimum an Privilegien. Allein die eiskalten Wassertemperaturen und die Strömungen um die Insel trugen zur Ausbruchsicherheit bei.“
Officer Hanks legt eine kurze Pause ein, räuspert sich, schnupft in ein Taschentuch und fährt fort.
„Die Gefangenen wurden damals in Einzelzellen untergebracht, und jeder hatte nur das Recht auf Essen, Kleidung und medizinische Versorgung. Arbeiten, Musik, Freigang im Hof, Briefkontakt oder sogar Besuch von Familienangehörigen zählten zu den Vorzügen, die sich ein Gefangener erst erarbeiten musste. Das galt auch für prominente Insassen, so wie Al Capone oder Robert Stroud, der wegen Mordes an einem Gefängniswärter zu lebenslanger Einzelhaft verurteilt wurde. Alcatraz war damals zur Bestrafung da, nicht zur Rehabilitation. Ich für meinen Teil kann dankend auf eine Besichtigung verzichten, habe dort lange genug das kriminelle Gesindel um mich gehabt. Hat mich Nerven und meine Gesundheit gekostet. Einem dieser verdammten Hunde verdanke ich, dass zwei Finger meiner linken Hand steif sind, dieser Bastard. Mit einer Gabel ging er damals auf mich los, und nagelte mich damit am Tisch fest.“
Im selben Augenblick greift Officer Andrew Hanks in seine Jackentasche, zieht eine Schachtel filterlose Zigaretten heraus, und Paul bemerkt, wie unbeholfen sich dieser eine Zigarette ansteckt. „Leider konnte ich mich bis heute nicht bei ihm bedanken. Drei Tage vor meinem erneuten Dienstantritt, ich verbrachte zwei Wochen im St. Memorial Hospital, gelang ihm und zwei anderen die Flucht. Es war der – lassen Sie mich mal überlegen – ja es muss der 11. Juni 1962 gewesen sein. Drei Insassen, Frank Morris, John Anglin und sein Bruder Clarence verbrachten viele Monate damit, Löcher in ihre Zellenwände zu kratzten. Die Werkzeuge fertigten sie sich aus Löffeln und kleinen Metallplatten, die sie aus der Werkstatt schmuggelten. Sie tarnten ihre Arbeit sorgfältig mit Attrappen und verstauten ihre Hilfsmittel und vorbereitetes Fluchtmaterialien im Versorgungsschacht hinter den Zellenwänden. Sie fertigten Kopfmodelle von sich selbst aus Pappe, Kabel, Zeitungspapier, Betonresten, Farbe und menschlichem Haar an. Jede Nacht wurden diese Dummys anstelle ihrer in die Betten gelegt, um die Wächter bei der Zählung zu täuschen.“
Noch bevor die Zigarette aufgeraucht ist, wirft Hanks diese fort um anschließend seine Hände in die wärmende Jackentasche zu stecken.
„Als die Vorbereitungen beendet waren, kletterten die drei durch diesen Versorgungsschacht auf das Dach. Sie flohen in nördlicher Richtung und verschwanden im Wasser. Keiner der drei wurde jemals wieder gesehen, nur ein Paddel wurde später gefunden. Offiziell gelten die drei als ertrunken.“
Für einen kurzen Moment blicken sich beide tief in die Augen. Paul erschrickt, als er dieses bemerkt, und sucht mit einem Schritt zur Seite schnell erneut den Schutz der Dunkelheit. Andrew starrt ihm regungslos an, gedankenverloren, bis er den Faden seiner Erzählung wieder aufnimmt.
„Später haben Mitgefangene ausgesagt, die drei hätten Schwimmwesten aus Regenmäntel gebastelt und sogar ein Floß gebaut. Außerdem hätten sie in der Zeit ihrer Gefangenschaft Spanisch gelernt und auch ihre Flucht weiter nach Mexiko vorbereitet.“
„Und warum erzählen Sie mir das alles“? Ich meine, Sie kommen her, erzählen mir Ihre halbe Lebensgeschichte, und das ohne mich zu kennen. Vielleicht interessiert es mich ja auch gar nicht.“
„Warum? Ich weiß nicht! Ich denke nur oft an damals zurück, an die Zeit dort drüben. Kennen Sie nicht auch das Gefühl, wie es ist, wenn Vergangenes Sie nicht los lässt?“
„Sicherlich, wer kennt das nicht? Immer dann, wenn man einen Fehler gemacht hat, oder eine falsche Entscheidung traf. Ich denke, ein jeder hat seinen eigenen Kampf mit der Vergangenheit zu bewältigen.“
„Und nun stehen Sie hier am Heiligen Abend und kämpfen mit Ihrer Vergangenheit? Brauchen Sie jemanden, der Ihnen zuhört?“
„Nein, ich möchte einfach nur alleine sein und meine Ruhe haben.“
„Solche Menschen wie Sie kenne ich nur all zu gut. Sie finden in ihrem Leben keine Ruhe, plagen sich mit den Erlebnissen ihrer Vergangenheit. Glauben Sie nicht, mir würde es nicht auch so ergehen. Jeden Tag, wenn ich mir meine Hand anschaue, denke ich daran wie es dazu gekommen ist, und mit jedem Tag schwindet mein negativer Gedanke gegenüber demjenigen, der mir das angetan hat.“
Zum ersten mal zeichnet sich in Pauls Gesicht eine gewisse Neugier ab. Seine Züge lockern sich und er löst die Hand vom Revolver. „Wieso? Ich meine, schließlich hat er Sie zum Krüppel gemacht.“
„Das ist richtig, aber ganz so unschuldig, wie ich immer dachte, bin ich vielleicht doch nicht. Jeder Reaktion geht eine Aktion voraus, ein einfaches Gesetz. Dieser Frank Morris hat nach diesem Gesetz gehandelt.“
„Waren Sie der, der die Aktion vorgegeben hat, der Aggressor“?
„Ja, ich meine – sehen Sie, ich war damals noch sehr jung und unerfahren. Während unserer Ausbildung bekamen wir immer wieder zu hören, dass Gefangene Dreck sind, der Abschaum der Menschheit. Und so sind wir ihnen dann im Gefängnis begegnet, respektlos und ohne Mitgefühl. Uns hat es nicht interessiert, warum der Einzelne dort saß. Für uns war jeder nur eine Nummer, der das Recht verspielt hatte, ein Teil der Gesellschaft zu sein. Für die meisten Gefangenen waren wir alles, was sie noch hatten, und nur die wenigsten suchten die Auseinandersetzung mit uns. Einer von diesen wenigen war jener Frank Morris.“
„Und was haben Sie ihm so Schlimmes angetan, dass er Ihre Hand verletzte?“
„Seinen Stolz gebrochen, seine Ehre verletzt, die einzigen wahren Besitztümer, die ein solcher Gefangener noch sein Eigen nennen kann.“
„Sie meinen, er hat Ihnen nur das wiedergegeben, was Sie ihm gegeben haben?“
Durch seine Worte angegriffen und mit der Tatsache konfrontiert, dass er ja Recht habe, fällt Hanks ihm ins Wort.
„Natürlich … ich meine … ich denke, das könnte der Grund gewesen sein. Wie schon gesagt, ich war damals noch jung und unerfahren, und unsere Vorgesetzten waren alte Haudegen. Über dem Eingangstor gab es ein Schild, auf dem zu lesen war: „Wenn du die Regeln der Gesellschaft brichst, schickt man dich ins Gefängnis. Wenn du die Regeln des Gefängnis brichst, schickt man dich zu uns!“ So sind wir ausgebildet worden, immer im festen Glauben, wir sind die Guten, die in den Zellen die Bösen.“
„Tut es Ihnen leid?“
„Ich weiß es nicht! Ich denke, ich werde es erst dann wissen, wenn wir uns gegenüberstehen, von Angesicht zu Angesicht. Aber dann werde ich wohl nicht die Zeit haben darüber nachzudenken.“
„Warum glauben Sie das?“
„Nun, er ist auch noch nach so vielen Jahren ein Gefangener der geflohen ist, ein gefährlicher Verbrecher, der seine Strafe bekommen, aber diese bis heute nicht verbüßt hat.“
„Glauben sie nicht auch, dass ein Mensch der seit über 20 Jahren auf der Flucht ist, seine Identität im Verborgenen hält, der jeden Tag die Angst im Nacken hat erkannt zu werden, nicht in Wirklichkeit die ganze Zeit über weiter ein Gefangener ist?“
Sie schauen sich beide lange an, bis sich Paul wieder der Situation besinnt, in der er steckt. Überrascht von seiner eigenen Redseligkeit, und vor der Gefahr erkannt zu werden, greift er erneut nach seinem Revolver, um sich zu vergewissern, dass dieser noch da ist.
„Fast täglich spiele ich die Situation durch, er stünde vor mir, und täglich ändert sich die Entscheidung meines Vorgehens. Wie ich schon sagte, von Angesicht zu Angesicht werde ich entscheiden was ich letztendlich wirklich machen werde.“ Gedankenversunken schaut Paul auf das Wasser, erschüttert von der Erkenntnis, dass seine Flucht nie ein Ende haben wird, und das er sein Leben lang der flüchtige Frank Morris bleibt.
„Sir, ich werde Sie mit Ihren Gedanken wieder alleine lassen. Ich denke, das was Sie bedrückt, der Grund, warum Sie alleine sein wollen, ich meine, ja was auch immer, ich werde jetzt gehen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, entfernt sich Officer Andrew Hanks vom Kai. Paul, immer noch auf das Wasser starrend, wagt sich nicht umzudrehen, aus Angst, er könnte sich mit einer falschen Bewegung doch noch verraten. Erst als die Laute seiner Schritte verstummen, lässt er den Revolver los und nimmt die Hände aus den Taschen. Er ist schon ein Stück in die entgegengesetzte Richtung gegangen, als es ihm scheint, sein Herz würde vor Schreck explodieren. Wie ein Peitschenhieb zerreist diese Stimme die mittlerweile eingekehrte, winterliche Ruhe. Sie kling kalt, aggressiv und sehr selbstsicher!
„FRANK MORRIS ….!“
Reflexartig wirbelt Frank herum, wissend, dass sein Versteckspiel nun ein jähes Ende hat. Instinktiv reißt er den Revolver aus seiner Manteltasche und richtet ihn in die Richtung, aus der die Stimme gekommen ist. Doch außer der Dunkelheit der Nacht sieht er nicht was ihn bedroht. Sein Herz pocht wild, als er dann doch schemenhaft eine Gestalt erkennt, die mit dem Rücken zu ihm langsam aus dem Lichtkegel einer Straßenlaterne verschwindet.
Das Einzige, was er noch leise wahrnehmen kann, sind die Worte: „Frank – Merry Christmas, Frank Morris!“
Zurück bleibt ein einsamer Mann, der es erst viele Wochen später verstehen wird, was es bedeutet, ein freier Mensch zu sein.
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