Der Marathonmann

von Ivano Fargnoli (2002)

 

„Eine Story“ erwiderte mein Chef Mr. Palmer hektisch. „Ich will alles über ihn wissen, von dem Tage seiner Geburt an, was er isst, was er trinkt, wo er lebt, einfach alles. Warum stellt der Typ sich so an, warum schafft es niemand etwas über ihn herauszufinden, verdammt noch mal. Bin ich den nur von Stümper umgeben?“ Krachend fiel die Tür zu, und ich konnte einen Moment später hören, das Palmer in seinem Büro bereits ein neues Opfer gefunden hatte.

 

Da stand ich nun, mit dem Auftrag, wenige Tage vor dem New York Marathon ein Porträt über Elias Castellari, einen der vielen teilnehmenden Läufer, anzufertigen. Dieser Auftrag erschien mir zunächst als alltäglich, doch schon bald musste ich das Gegenteil feststellen. Elias Castellari galt als sehr verschlossen, keinem Journalisten gelang es bisher etwas Wissenswertes über ihn in Erfahrung zu bringen. Er lebte stets zurückgezogen, tauchte erst kurz vor einem Lauf auf und verschwand anschließend ohne viel Aufsehen zu erregen. Er zählte seit Jahren zu den besten Läufern Europas, und das machte ihn außergewöhnlich und interessant. Ein klassischer Einzellgänger, der ohne Begleitung anreiste, alleine trainierte und selbst in den letzten Minuten vor dem Start mit niemandem sprach.

 

Mit diesem nicht allzu großen Hintergrundwissen stand ich am Abend des selbigen Tages vor seinem Zimmer. Ein Freund, der im für den Marathon zuständigen Organisationsbüro arbeitete, ließ mir eine Kopie Castellaris Anmeldebogens zukommen. So erfuhr ich, in welches Hotel er abgestiegen war und das er 1965 in Polignano, einer idyllischen Stadt in der Nähe von Mailand geboren wurde. Sein Wohnort hingegen war ganz im Süden, eine kleine, malerische Stadt namens Taormina, mitten im Herzen des mediterranen Siziliens. Das war nicht viel Information für ein Seiten füllendes Läuferporträt in der Samstagsausgabe der New York Times.

 

Nachdenklich, ja eher zaghaft, klopfte ich an Castellari`s Zimmertür. Nach einer unendlich scheinenden Zeit öffnete sich diese und mein erster Gedanke war, dass sein Gesicht dem entsprach, was man sich über ihn erzählte, aber keineswegs identisch mit den zwei Fotos war, die ich von ihm hatte. Seine stechenden, für einen Italiener eher ungewöhnlich blauen Adleraugen, sein grauer, gepflegter Drei-Tage-Bart und die ebenso grauen, kurz geschorenen Haare gaben mir das Gefühl von Einsamkeit und Kälte. Sein Aussehen unterstrich die Unnahbarkeit von der man sich erzählte. Einzig seine kleine, metallisch, silbern blau glänzende Brille passte nicht so recht in das Bild, verlieh aber dem harten Gesicht weiche Konturen.

 

Nach einem kurzen Moment des gegenseitigen Musterns, durchbrach seine ruhige, aber raue, tiefe Stimme die unangenehme Stille: „Ja bitte, was kann ich für Sie tun?“

 

„Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen… Bruce Murphy… Kolumnist der New York Times! Ich möchte gerne… ich meine… hätten Sie Interesse… wären Sie bereit, mir ein Interview zu geben?“ Ohne ein Wort zu verlieren, schloss Castellari leise die Tür, und ich starrte ohne jede Regung auf die matt silberne Zimmernummer.

 

Zwei Tage später stand ich am Zieleinlauf, und sah den überragenden Sieg des Kenianers Martin Lel, der für die Strecke zwei Stunden und zehn Minuten benötigte. Beeindruckt bei dem Gedanken, dass eine Masse von 30.000 Läufern und über 100.000 begeisterte Menschen am Straßenrand der ganzen Welt zeigten, dass der feige Terroranschlag vom 11. September zwar das Ende des World Trade Centers war, nicht aber den Tod der Stadt bedeutete, und das diese mehr den je lebte.

 

Sichtlich gezeichnet und erschöpft lief Elias als neunter, männlicher Läufer ins Ziel. Die Menge jubelte und ein kleines Mädchen streckte ihm einen großen, bunten Blumenstrauß entgegen, den er wortlos annahm. Helfer überreichten eine Decke, boten Getränke, aber er winkte alles und jeden weiteren ab und verlies zügig den Ort des Geschehens.

 

Nach meinem missglückten Versuch im Hotel, hatte ich die Hoffnung, wenigstens auf dem Weg dorthin ein paar Worte mit Castellari wechseln zu können. Ich war mir sicher, dass er nicht mit einem Taxi, sondern zu Fuß das Hotel erreichen würde. Ich folgte ihm, und nachdem er sich an einem der vielen Service Stationen seinen Trainingsanzug abgeholt und diesen in einer Umkleidekabine angezogen hatte, machte er sich zu Fuß auf dem Weg zum nahe gelegenen Hotel. Wenige Straßenzüge weiter verlor ich ihn aus den Augen und damit meine Hoffnung, vielleicht doch noch einige Worte mit ihm wechseln zu können. An der nächsten Kreuzung angelangt, schaute ich entmutigt und hoffnungslos verwirrt die Strassen entlang. Ich sah in nur wenigen Metern Entfernung den auf dem Bürgersteig liegenden Blumenstrauß, den Castellari am Ziel von dem Blumenmädchen überreicht bekommen hatte. Ich hob ihn vorsichtig auf und entdeckte dabei einen kleinen Zettel…

Er musste mich bemerkt und diese Zeilen in der Umkleidekabine geschrieben haben, dachte ich, und fuhr nach einer kurzen Pause unverrichteter Dinge ins Büro zurück. Nach einem schlechten Kaffee und einigen unwichtigen Telefonaten fiel mein Blick erneut auf den kleinen Zettel. Ich lass die Zeilen immer wieder, bis sie fest in meinem Kopf verankert waren. Gedankenverloren wanderte mein Blick durch das Büro, bis ich auf die Kopie Castellaris Anmeldebogens stieß, die noch immer auf meinem Schreibtisch lag. Ich nahm diese Kopie, überflog sie und dachte nach. Die Idee die in mir dabei aufkam war, nicht unbedingt verrückt, aber sie war auf jeden Fall… außergewöhnlich.

 

Auf dem langen Flug nach Catania hatte ich viel Zeit darüber nachzudenken, warum ich mich so sehr mit der ganzen Situation auseinander setzen wollte, und bereit war dieses Abenteuer aus eigener Tasche zu bezahlen und meinen kostbaren Urlaub dafür zu opfern. Es ging mir nicht mehr darum, dass ich es diesmal nicht geschafft habe, eine mir zugewiesene Aufgabe als Mitarbeiter der New York Times zu erfüllen. Es war etwas Persönliches geworden, der innere Drang, den Menschen Elias Castellari nebst seiner Geschichte kennen lernen zu wollen. Ich wusste zu der Zeit noch nicht, wie es geschehen sollte … ich war mir aber sicher, dass es geschehen würde…. irgendwie.

 

Nach der Landung dauerte es noch eine Weile, bis ich endlich in meinem Hotel in einem Nachbarort namens Letojanni, sechs Kilometer von Taormina entfernt, ankam. Obwohl ich erschlagen von der langen Reise schlafen wollte, zwang mich eine innere Unruhe dazu, mich sofort auf den Weg zu machen. Ein Bus brachte mich zur Seilbahnstation, mit der ich zur hochgelegenen Altstadt Taorminas gelangte. Oben am Berg angekommen, schlängelte ich mich durch die vielen engen, verwinkelten Gassen. Ich war mitten drin, in der Corso Umberto, der Hauptschlagader und zugleich der Fußgängerzone von Taormina. Es fiel mir schwer, bei der Vielzahl der Gassen und Treppenwege nicht dir Orientierung zu verlieren. Als ich in den Hof der Via St. Antonio No.36 einbog, saß Elias auf einer der drei Steintreppen, die in das Haus führten. Schweißgebadet, sichtlich erschöpft und müde war er dabei, sich seiner Laufschuhe zu entledigen. Für einen kurzen Moment schauten wir uns an, und ich hatte das Gefühl, das wir uns nicht fremd waren. Nach einer Atempause, in der Elias mich und meine Erscheinung musterte, nickte er mir zu und sagte: “Morgen früh, Schreiberling …. Morgen früh um Sieben … und sei pünktlich.“ Er verschloss ohne einen weiteren Kommentar die Tür hinter sich und ließ mich in der Abenddämmerung stehen. Ich ging den Weg zurück, den ich gekommen war, lief mitten durch die vielen Menschen, die mir wie eine riesige Menschentraube den Weg versperrten, bestieg die Seilbahn und später den Bus, der mich wieder nach Letojanni brachte. Im Hotel angekommen aß ich eine Kleinigkeit und ging sofort zu Bett. Die Anstrengung der Reise und das erste Treffen hatten mich ermüdet, und ich ahnte, dass der morgige Tag noch viel schlimmer werden würde.

 

Am nächsten Morgen hetzte ich die steile Strasse zu Castellaris Haus hinauf. Als ich um die Ecke bog, stand Elias bereits ungeduldig wartend mit ernstem Blick und verschränkten Armen da. Er gönnte mir wortlos einen Moment der Pause, bevor er sich umdrehte und langsam seinen Lauf begann.

 

Tief durchatmend setzte ich mich in Bewegung, und musste schon nach kurzer Zeit schnaubend und prustend feststellen, dass der Abstand zwischen uns wuchs. Zwischenzeitlich drehte Elias sich um und vergewisserte sich, dass ich noch hinter ihm war. Als der Abstand zu groß wurde, blieb Elias stehen, schaute kurz in den Himmel dann wieder in die Richtung, in der ich mich weiter nach vorne kämpfte. Kopfschüttelnd lief er mir entgegen, dann, ohne mich eines Blickes zu würdigen, weiter wortlos an mir vorbei zurück zum Haus. Ich kam zehn Minuten später an, entdeckte einen kleinen Tisch mit Früchten, einen Krug mit Wasser und einen Zettel auf dem stand: “Morgen früh Schreiberling… um Neun.“

 

Völlig ausgelaugt ging es unter die Dusche, und den restlichen Tag verbrachte ich in meinem Bett. Erst zum Abendessen, das aus drei Bananen, etwas Müsli mit Milch, einem Apfel und jeder Menge Wasser bestand, spürte ich so etwas wie Leben in mir zurückkehren. Später, in einem Liegestuhl auf der Dachterrasse des Hotels, genoss ich die erholsame, salzhaltige Mittelmeerluft und den glutroten Himmel über dem Ätna. Bedrohlich spiegelte sich die Lava des Kraters am Nachthimmel, und mit diesem urgewaltigen Eindruck schlief ich ein.

 

Der Ablauf des vergangenen Tages wiederholte sich permanent. Castellari wartete meist im Hof auf mich, wir liefen gemeinsam los und schon nach kurzer Zeit kam mir Elias wieder wortlos entgegen. Ich mühte mich stets zurück, immer den Korb frischen Obst und den Krug Wasser vor Augen. In der neunten Nacht wachte ich auf, ging zum Fenster und schaute in den glutroten Himmel und dachte über die vergangenen Tage voller Anstrengung und Schmerz nach. Am Ende jeden Gedankens stand beständig die Frage: „Warum?“ Mein Wille schwankte, aber ich war fest entschlossen mir selber zu beweisen, dass ich das alles wirklich wollte. Mit diesem gefestigten Entschluss ging ich zu Bett und schlief rasch ein.

 

Der neue Tag begann anders als die vergangenen, denn Castellari hatte den Zeitpunkt des Laufes in die Abendstunden gelegt. So konnte ich ausschlafen, gut frühstücken, mir eine erholsame Massage gönnen und mich in aller Ruhe auf die abendliche Tortur konzentrieren.

 

Als Elias abends seine Tür öffnete, blieb er wie angewurzelt stehen. Zum ersten Mal gab es so etwas wie ein Lächeln in seinen Gesichtszügen zu entdecken. Ich stand bereits mit verschränkten Armen wartend im Hof. Elias nickte mir zu und ich begann die mir mittlerweile vertraute Strecke zu laufen. Es dauerte nicht lange, bis sich das alte Bild wieder einstellte, Elias vorneweg und ich kämpfend hinterher. Meine Verzweiflung wuchs, hatte ich mir doch erhofft, an jenem Abend einen Schritt weiter zu kommen, eine Veränderung zu erreichen. Mitleidig schaute Castellari mich an, als er mir auf dem Weg nach Hause entgegen kam.

 

Mit dem Gedanken an die bevorstehende Erfrischung bog ich in den Hof ein und entdeckte… nichts. Kein Wasser… kein Obst… noch nicht einmal ein Zettel mit dem Hinweis auf den morgigen Tag. Außer Atem empfand ich diesen Moment als Niederlage, bis ich mich umschaute und Elias erblickte, der vor der Haustür stand. Wortlos drehte er sich um, ging ins Haus… und ließ die Tür offen.

 

Zögernd ging ich die drei Stufen hinauf, durchschritt einen lang gezogenen Flur und betrat einen hallenartigen Raum mit Holzbalustraden. Ein kleines, gerade entfachtes, knisterndes Kaminfeuer tauchte den Raum in schattenüberflutete, warme Farben. Die Bilder an der Wand wirkten zeitlos, so wie Möbel die dort standen. Augenscheinlich betrachtet waren sie zwar alt, dennoch war das Arrangement harmonisch und das Bild das sich mir bot ruhig und sanft. Auf einem Tisch lag ein sauberer Trainingsanzug, ein Badetuch, Seife und ein Krug mit frischem Wasser. Aber weit und breit keine Spur von Elias.

 

Nachdem ich einen schluck Wasser zu mir genommen und den ersten Durst gelöscht hatte, erschrak ich, als die Stille unerwartet von Elias Stimme unterbrochen wurde. „Dort drüben geht es ins Bad, da kannst du dich ein wenig frisch machen.“ Dabei deutete er auf die Sachen, die auf dem Tisch lagen.

 

Wortlos nahm ich diese und ging ins Bad. Als ich wieder in das Kaminzimmer kam, duftete es herrlich nach frischem Brot, Fleisch, Salat und Wein. Elias saß bereits am Tisch und forderte mich mit einem Wink auf, Platz zu nehmen. Nach einem kurzen Gebet, das Elias leise sprach, nahmen wir das Mahl ein, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Später räumte Elias den Tisch ab, goss Kaffee nach und deutete auf die Couch in der hinteren Ecke des Raumes.

 

„Es wäre mir eine Ehre, wenn du diese Nacht mein Gast wärst … Schreiberling.“ Ohne auf eine Antwort zu warten verließ Elias den Raum. Erschöpft richtete ich mir ein Nachtlager ein, deckte mich mit der bereit gelegten Decke zu und schlief rasch ein.

 

Ich erschrak, als ich meine Augen öffnete und im Lichtschein einer Kerze eine Gestalt vor mir sah. Nachdenklich auf einem Stuhl sitzend, die Beine übereinander geschlagen und mit den Ellenbögen der gefalteten Hände auf den Armlehnen abgestützt, schaute Castellari mich nachdenklich an. Es vergingen Momente des Schweigens. Ich richtete mich langsam auf und wollte gerade die drückende Stille brechen, als mir Elias zuvor kam.

 

„Du wirst wahrscheinlich nicht eher Ruhe geben und von hier verschwinden, bis ich dir meine Geschichte erzählt habe, richtig?“ Fest entschlossen und mit selbstsicherem Ausdruck nickte ich, und mein ernstes Gesicht unterstrich diese Feststellung.

 

„Ich habe mit der Zeit eine dicke Haut bekommen, was euch Schreiberlinge betrifft. Dabei habe ich viele von deiner Sorte kennen gelernt, und jeder hatte dabei seine eigene Art an Informationen heranzukommen. Aber eines hatten alle gemeinsam…!“

 

Ich rieb mir den Rest Schlaf aus den Augen, nahm mit einem fragenden Blick meinen Notizblock und Bleistift zur Hand, und begann nach einem positiven Nicken Elias damit, mir Notizen zu machen.

 

„Es gab keinen von euch, der mir das Gefühl gab, wirklich wissen zu wollen, wer ich bin und was mich bewegt. Jeder war nur bedacht schnell seine Aufgabe erfüllen um anschließend noch schneller wieder zu verschwinden. Ich muss zugeben, dass du die erste Ausnahme bist. Deine Art und dein Wille imponieren mir. Du bist für deine Sache bereit, Schmerzen zu ertragen und mit diesem Schmerz zu bezahlen. Nun bin ich bereit, dir den verdienten Gegenwert zu geben, da ich denke, dass du dir der Tragweite meiner Geschichte bewusst sein wirst. Also hör gut zu!

 

Mit 18 Jahren wurde ich zum italienischen Militär einberufen. Da ich schon mein ganzes Leben Sport trieb, und daher in guter körperlicher Verfassung war, schaffte ich es als Taucher zur Marine. Ich lernte dort Enzo Caldano kennen, einen begnadeten seiner Art, der das Meer liebte und jede freie Minute im nassen Element verbrachte. Er kannte um ganz Sizilien herum die schönsten Stellen, an denen die farbenprächtigsten Fische zu finden waren, kannte alle tauchwürdigen Schiffwracks und die schönsten Strände, an denen sich die elegantesten Frauen der Sonne hingaben. Besonders die weiblichen, zarten Geschöpfe hatten es uns angetan, und wir ließen keine Möglichkeit aus, diese kennen zu lernen. Ich war damals wirklich ein Draufgänger, der die Frauen des Öfteren wechselte. Ich wollte meinen Spaß und nahm dabei wenig Rücksicht. Enzo dagegen war anders. Er liebte es, mit ihnen spazieren zu gehen, zu reden und bei Sympathie vielleicht auch mehr. Erzählte ich ihm von meiner Eroberung in der letzten Nacht, so erzählte er mir von einem tollen Cafe`, dass er mit einer Frau aufgesucht hat und dort Stunden verbrachte. Ich schaute ihn dann mit einem Lächeln an, und er gab mir zu verstehen, dass nicht alle so sein konnten wie ich. Ich wusste schon damals, dass er nicht alle meine Handlungen für gut befand, ließ mich aber trotzdem mein Leben leben.

 

Während unserer Militärszeit merkten wir, dass wir im und am Meer unser Lebensinhalt gefunden hatten. Enzo besaß mit seinem Vater in Taormina eine Tauchschule. Sein alter Herr war in die Jahre gekommen und wollte sich daher aus dem Geschäft zurückziehen. Enzo bot mir eines Tages eine Stelle als Tauchlehrer an, die ich ohne lange nachzudenken sofort annahm. Die Jahre vergingen, die Schule lief gut, wir hatten unseren Spaß und keiner hätte daran gedacht, dass es jemals anders sein könnte. Eines Tages verspürte ich den Drang, sesshaft werden zu wollen und heiratete. Doch schon nach kurzer Zeit bestand ich die erste Bewährungsprobe nicht. Ich vertraute dieses Enzo an und entlastete so mein schlechtes Gewissen ein wenig. Auch folgende Eskapaden behielt ich nicht für mich. Enzo war verschwiegen und gehörte nicht zu den Moralaposteln, die mit erhobenen Zeigefingern mahnten, was Recht und Unrecht war. Er hörte zu, und ich dankte ihm seine Verschwiegenheit, ganz besonders gegenüber meiner Frau Lorena. Sie war eine sehr hübsche, intelligente und sportliche Frau mit sehr viel Temperament.“

 

Mit diesen Worten verstummte er und starrte ins Leere. Ich stand auf, nahm mir ein Glas Wasser und schenkte Elias ebenfalls ein Glas ein. Nachdem wir ein wenig getrunken hatten, fuhr er mit seiner Geschichte fort.

 

„Sie war, wie ich schon sagte, eine sportliche Frau. Von ihrem Vater, einem sehr stolzen, kräftigen und ehrgeizigen Spanier, hatte sie das andalusisches Blut und das damit verbundene Temperament geerbt. Lorena glich einem ungeschliffenes Juwel und ihre Kochkunst war ein Traum kulinarischer Genüsse: Fritatta mit Gartengemüse, Thunfischpastete gefüllt mit Peperoni oder winzige Wirsingwickel mit Käsesauce. Selbst ein einfacher Café au lait wurde zu einem Gaumengenuss. Ihr Körper war ein Tempel der Anbetung, der Kraft und der Schönheit. Die erotische Ausstrahlung kam Carmen gleich, beim Tanz des Bolero. Ihr schmales, anmutiges Gesicht und ihre langen dunklen Haare glichen einem Gemälde. Hätte Leonardo da Vinci seinerzeit die Wahl gehabt zwischen Mona Lisa und ihr, er hätte sich für sie entschieden. Aber so schön sie auch war, so gut sie mich umsorgte und verwöhnte, das großartigste war, das sie nicht nur meine Frau sondern auch mein bester Freund war, der zuhören konnte und stets offen und ehrlich zu mir war.“

 

Für einen kurzen Moment unterbrach Elias seine Erzählung, zu groß und schmerzlich waren die Erinnerungen an seine Frau.

 

„Lorena lief und trainierte jeden Tag und ihr größter Wunsch, einmal an einem Marathon teilzunehmen, wuchs von Tag zu Tag. Ihre Leistung wurde trotz des vielen Trainings nicht besser, auch wenn sie verglichen mit einer Durchschnittsläuferin sehr gut war. Ich wagte es nie, ihr meine Zweifel mitzuteilen, dass sie es jemals schaffen könnte einen solchen Lauf durchzustehen. Ich wollte ihren Traum nicht zerstören und baute sie daher immer wieder auf. Wir waren beide sehr glücklich, bis an dem Tag, als dieser Brief auftauchte. Es war… entschuldige bitte… aber ich fange jetzt an, ein wenig vorzugreifen. Es fällt mir schwer mich zu konzentrieren, ich brauche Ruhe.“

 

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren und ohne eine Regung von mir abzuwarten verlies Elias den Raum. Er schien sehr andächtig und abwesend. Ich lag noch lange wach und dachte darüber nach, was er mir eigentlich sagen wollte, bevor er abbrach.

 

Als ich am nächsten Morgen erwachte, duftete es bereits nach Kaffee und frischen Brötchen. Elias saß vor dem gedeckten Tisch und wartete auf mich. Wortlos schaute ich ihn an und dachte darüber nach, das es das erste mal war, das ich mich irgendwie wirklich willkommen fühlte. Ich setzte mich wortlos an den Tisch, und bevor Elias mit seiner Geschichte fortfuhr, schenkte er mir Kaffee ein.

 

„Eines Tages stand ein junges Mädchen vor unserer Tauchschule. Sie hieß Estrella Marie Ramon, war 20 Jahre und die Tochter eines zugezogenen, spanischen Diplomaten. Ich fand sie nicht sonderlich hübsch. Sie war klein und ihr Gesicht hatte, bedingt durch eine vergangene Hautkrankheit, eine Menge kleiner Narben. Sie informierte sich bei Enzo über das Tauchen, und nach wenigen Tagen meldete sie sich in der Schule an. Sie war sehr fleißig, lernfähig und verstand sich mit den anderen Tauchschülern sehr gut. Schon nach kurzer Zeit überholte sie mit ihrem Eifer so manch anderen Schüler, und das imponierte Enzo sehr. Beide verabredeten sich des Öfteren und gingen zusammen auf Tauchgänge. Als wir beide eines Abends in einem Cafe saßen und uns über die Tauchschule unterhielten, sprach ich Enzo auf Estrella Marie an. Er stellte klar, das beide schon mal zusammen Essen oder einen Kaffee trinken waren, das alles aber auf einer freundschaftlichen Ebene basierte. Ohne das ich weiteres sagte, gab er mir zu verstehen, dass er es nicht tolerieren könnte, wenn ich mit ihr meine Spielchen spielen würde. Wir redeten an diesem Abend nicht weiter darüber, aber es sollte nicht das letzte mal gewesen sein.“

 

„Als Enzo eines Tages verhindert war, mit Estrella Marie auf Tauchgang zu gehen, sprang ich für ihn ein. Bis zu diesem Tag kannten wir uns nur vom Sehen, aber es änderte sich fortan. Mit der Zeit lernten wir uns besser kennen, und es fiel mir anfangs schwer, nicht an Enzos Worte zu denken und seine schützenden Hände über Estrella Marie zu sehen. Aber je länger ich meine Zeit mit ihr verbrachte, desto mehr wog ich die Situation zwischen ihr, Enzo und Lorena ab. Mein Jägerinstinkt erwachte von Tag zu Tag und ihre Naivität machte es mir sehr leicht das Spiel zu spielen, mein Spiel. Enzo las es in meinen Augen und in meinem Gesicht und er wusste, dass das Spiel schon längst begonnen hatte. Wir saßen eines Abends in unserem Cafe, und er wollte von mir wissen, ob ich mir bewusst war, dass Estrella Marie sich in mich verliebt hätte. Ich verneinte und versicherte ihm, dass ich nichts im Schilde führen würde. Ich fühlte mich nicht gut dabei ihn anzulügen, aber zu viel war schon zwischen Estrella und mir passiert. Zu sehr würde ich auch sie damit bloßstellen, denn es war unser Geheimnis, das sie Enzo gegenüber geheim hielt.

 

Aber eines ließ mich nicht zur Ruhe kommen: das Wissen, dass Enzo Recht hatte. Estrella war in mich verliebt, und diese Situation nahm auch für mich ein Maß an, das ich nicht mehr kontrollieren konnte. Ich hatte ihre Gutgläubigkeit ausgenutzt und ihr das Gefühl von Wärme, Respekt und Liebe gegeben ohne wirklich was für sie zu empfinden.“

 

Elias hielt inne, stand auf, ging zum Fenster und schaute in den Himmel. Die glutrote Lava im Inneren des Ätna verwandelte den Himmel in ein Meer von roten Farben. Nach einer Weile setzte er sich wieder und fuhr mit seiner Geschichte fort.

 

„Menschen ändern sich, denn ohne diese Änderung wäre eine Entwicklung nicht möglich. Als ich damit anfing, etwas ändern zu wollen, hätte ich niemals gedacht, wie sehr sich mein Leben ändern würde. Nach einem tollen Tauchgang mit Estrella gingen wir anschließend am Strand spazieren. Dabei brachte ich zur Sprache, das wir mit dem, was unsere letzten Wochen geprägt haben, aufhören müssen. Sie weinte und wollte nicht verstehen, dass ich ihre Liebe nicht erwiderte, dass die einzige Liebe meiner Frau galt. Was als Steinwurf begann, endete in einer Lawine. Die Ereignisse überschlugen sich, und mein Leben änderte sich damit bis zum heutigen Tag.

 

Es überraschte mich nicht, dass Estrella sich von der Tauchschule abmeldete. Umso heftiger traf es mich, als Enzo mich nur wenige Tage später mit Einzelheiten konfrontierte, die nur Estrella und ich wussten. Unsere heimlichen Treffen in der Bucht, unser gemeinsames Frühstück in meiner Wohnung und dem darauf folgendem Abenteuer im ehelichen Schlafzimmer. Mein Verdacht, dass Estrella selbst alles verraten hatte, bestätigte sich nicht, zumindestens nicht direkt. Erst als mir Enzo die Freundschaft und meine Stellung in der Tauchschule kündigte, wurde mir das Ausmaß der Katastrophe bewusst. Lorena stand eines Morgens überraschend in Enzos Tauchschule, ohrfeigte ihn, schmiss ihm einen Brief vor die Füße und brach anschließend mit einem Weinkrampf zusammen. Dieser Brief enthüllte die Beziehung zwischen Estrella und mir, anonym in den Briefkasten gelegt. Es blieb aber nicht nur bei dieser Enthüllung. Dem Brief war zu entnehmen, dass Enzo von allem wusste und es Lorena verheimlicht hatte. Er stand als Lügner da, ungerechtfertigt. Es wurde mir schnell bewusst, dass Estrella selbst diesen Brief verfasst und ihn eingeworfen hatte. Es ist wie man sagt: Liebe und Hass sind ganz eng miteinander verknüpft. Als mir bewusst wurde was geschehen war, fuhr ich sofort nach Hause. Lorena schnürte sich gerade ihre Laufschuhe, und ich sah in ihre schmerzvollen, verweinten Augen. Sie ging wortlos an mir vorbei, und als ich sie festhalten wollte, schlug sie mir ihr Faust ins Gesicht. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah.“

 

Enzo Castellari unterbrach abermals seine Erzählung. Meine Anspannung stieg an, denn ich spürte, dass nun der Moment gekommen, war zu erkennen, was hinter dem Mensch Castellari für eine Geschichte verborgen lag. Nachdem er einen Schluck getrunken und tief durchgeatmet hatte, fuhr er fort.

 

„Der Dorfpfarrer überbrachte mir die Nachricht von Lorenas Tod. Sie stürzte einen Abhang hinunter, und es ist bis heute nicht geklärt, ob es ein Unfall war, oder ob sie sich mit Absicht hinuntergestürzt hat. Man fand sie fast vierzig Kilometer von hier entfernt, eine Strecke, die sie bis zu diesem Tag noch nie bewältigt hatte. Nur wenige Kilometer haben gefehlt, und sie hätte sich selbst und auch mir bewiesen, dass sie einen Marathon laufen kann.“

 

Elias stand auf, schnürte seine Laufschuhe und schaute mich mit einem Ausdruck der Erleichterung an. Er bedankte sich für`s Zuhören und teilte mir im selben Atemzug mit, dass ich noch in Ruhe essen könnte und das mein Taxi, das mich zum Hotel bringen würde, gegen elf Uhr da wäre. Ohne mir die Möglichkeit zu geben, etwas erwidern zu können, ging er. Ich blieb noch lange sitzen und versuchte zu verstehen, was in ihm vorging. Er fühlte sich schuldig für Lorenas Tod, und seine Schuldgefühle reflektierten alles, was mit ihrem Leben und ihrem Tod in Verbindung zu bringen war. Sein täglicher Lauf war der tägliche Kampf mit seinem Schicksal und seiner Vergangenheit. Mit seiner Selbstkasteiung hatte er einen eigenen Weg der Busse gewählt. Erst ein Sieg, den er ihr widmen würde, könnte zumindest einen kleinen Teil seiner Schuld von ihm nehmen. Doch die Wahrscheinlichkeit, seinen Frieden zu finden, war eine andere.

 

Auf dem Rückflug nach New York verspürte ich Erleichterung. Noch Tage zuvor führte mich der Gedanke, Elias Castellari kennen zu lernen, nach Sizilien. Aber als ich seine Geschichte erfuhr verspürte ich Trauer und Mitleid. Mir kam der Gedanke an Afrika, an die vielen Gazellen und Löwen, die jeden Morgen, wenn die Sonne aufgeht, erwachen und laufen. Beide wissen, das sie schnell laufen müssen, um nicht zu verhungern oder gefressen zu werden. Letztendlich ist es egal, ob du Löwe oder Gazelle bist, Jäger oder Gejagter. Wenn die Sonne aufgeht, musst du rennen. Welche Rolle hatte Elias übernommen? Jagte er der Hoffnung hinterher, sich durch die Pein, die er sich zufügte, eine Erlösung zu finden? Oder war es seine Flucht vor der Realität?

 

In meiner Zeit als Journalist hatte ich vieles erlebt, habe mit eigenen Augen das World Trade Center einstürzen, und die vielen Menschen, die dort arbeiteten in Panik flüchten sehen. Bei den Bildern war ich wie gelähmt, aus Angst um die Freunde, die sich zu dieser Zeit im oder um das Gebäude befanden. Ich sah Kriegsszenarien aus Afghanistan und Jugoslawien, sah das verheerende Ausmaß, dass die Riesenwelle in Südostasien hinterließ, und auch die Hungersnot der ärmsten Völker dieser Erde bewegten mich. Aber ich sah es als meine Aufgabe, dies alles der Welt mitzuteilen. Doch Elias Geschichte veränderte mich, und ich stellte mir zum ersten Mal die Frage, was die Welt erfahren sollte und was nicht. Meine Beharrlichkeit hatte mich zum Ziel geführt, und dennoch kam das Gefühl der Befriedigung nicht in mir auf. Ich entschied mich, meine ganzen Aufzeichnungen auf Sizilien zurück zu lassen. Dort, wo ich die Geschichte erfuhr, da sollte sie auch bleiben. Einzig die Erinnerung in meinem Kopf blieb.

 

In den vergangenen Jahren lief ich einige Marathons, ob New York, Boston, Berlin oder Rom, und stets dachte ich an Elias Castellari und sah mich vergeblich nach ihm um. So sehr ich hoffte ihn zu sehen, um so erfreuter war ich, das ich ihn nie wieder sah. Hatte er doch vielleicht seinen Frieden mit sich selber gefunden, wie immer dieser Friede auch aussah.